Das Ende der „Einsamkeit in Freiheit“?

Posted on 1. Februar 2017

4


Ein Gespräch mit DFG-Präsident Prof. Dr. Peter Strohschneider

Teil 1: Wissenschaft und Gesellschaft

Wissenschaftskommunikation arbeitet an der Grenze von Wissenschaft und Gesellschaft. Während die Wissenschaft von der Gesellschaft getragen wird, verändert sich diese Gesellschaft rasant. Ein Spannungsfeld mit gewaltigen Herausforderungen? Darum geht es im „Wissenschaft kommuniziert“-Gespräch mit dem Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Prof. Peter Strohschneider:

DFG-Präsident Prof. Peter Strohschneider sieht schwierige Zeiten im Verhältnis Wissenschaft und Gesellschaft. (Foto: DFG)

DFG-Präsident Prof. Peter Strohschneider  (Foto: DFG)

Herr Professor Strohschneider, Sie sehen als Gegenreaktion zur „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ eine „Vergesellschaftlichung der Wissenschaft“ kommen. Was verstehen Sie genau darunter?

Strohschneider: Die moderne Wissenschaft, wie sie sich in den letzten 200 Jahren herausgebildet hat, ist ein System, das gekennzeichnet ist durch disziplinäre Organisation und Autonomieansprüche. Beides hängt zusammen. Die aufklärerische Wissenschaft, etwa seit Francis Bacon, war nicht disziplinär organisiert und konnte unmittelbar gesellschaftlich kommunizieren. In einem Gelehrtensalon des 18. Jahrhunderts etwa haben die Wissenschaftler und die Nichtwissenschaftler gemeinsam über ein ganzes Spektrum von Themen diskutiert: Quer durch den Garten von der Phlogistontheorie über den Mesmerismus, von der Romanpoetik bis zur Liebespsychologie.

Mit der Entstehung der modernen Wissenschaften wird dies aufgelöst: Wissenschaft differenziert sich in Disziplinen aus – es gibt jetzt Chemie und Geschichte, und es ist klar dass die Chemie nicht nach den Maßstäben der Geschichtswissenschaft beurteilt werden kann und umgekehrt. Zugleich ist das primäre Bezugssystem der Forschung nicht mehr die Gesellschaft, sondern die Wissenschaft. Man bezieht sich zunächst einmal auf die eigene Disziplin, ist aber mediatisiert durch die Wissenschaft. Die Gesellschaft sieht nur die Wissenschaft, die Wissenschaftler aber sehen zunächst einmal ihre eigene Disziplin.

Dieser Zusammenhang ist in der ganzen Geschichte der modernen Wissenschaft prägend. Wir kennen ihn unter ganz bestimmten Leitbegriffen. Und die heißen: „Einsamkeit in Freiheit“ und „Autonomie der Wissenschaft“. Diese Autonomie der Wissenschaft, seit 1800 ungefähr, ist ein entschiedener Gegenentwurf zur Wissenschaft des Aufklärungszeitalters. Die war nicht autonom, sondern die war auf gesellschaftliche Nützlichkeit eingestellt. Und ich glaube, dass sich die Konfiguration einer disziplinär organisierten und von der Gesellschaft in einem Autonomieraum belassenen Wissenschaft auflöst.

Anders gesagt: In dem Maße, in dem die Wissenschaft immer bedeutsamer wird, immer größer wird, finanziell immer größere Voraussetzungen benötigt, auch rechtliche, technische und soziale Voraussetzungen, in dem die Menschen und die Gesellschaft in allen ihren Dimensionen von wissenschaftlichem Wissen abhängig werden, weil ohne dies die Lebensführung gar nicht mehr möglich wäre, in dem Maße sinkt die Autonomietoleranz der Gesellschaft.

Wir sind zu viele und unsere Arbeit ist zu wichtig, als dass die Gesellschaft – wie vor 100 Jahren –noch sagen könnte: „Na die 5000 Leute lassen wir mal forschen. Wenn dann etwas Ordentliches herauskommt, ist es prima, wenn nicht, ist es auch egal. Das leisten wir uns eben.“ Allein die Planung eines Kindergartens setzt heute eine ungeheure Menge an Wissen voraus, an dem Wissenschaft zumindest mitgestaltet hat – sozialstatistisches, pädagogisches, archtektonisches, jugendrechtliches und bautechnisches Wissen. Es gibt gute Gründe dafür, dass die Autonomietoleranz der Gesellschaft gegenüber der Wissenschaft abnimmt. Das meine ich mit der „Vergesellschaftlichung der Wissenschaft“.

Eine wesentliche Grundlage wissenschaftlichen Erfolgs ist aber doch die Freiheit der Forschung. Wie steht es dann darum?

Es ist ganz klar, dass moderne Wissenschaftsgesellschaften legitime Ansprüche daran haben können, dass die öffentlich geförderte Wissenschaft auch das beforscht, was die Gesellschaft für relevant hält. Allerdings wird die Gesellschaft von der Wissenschaft nur das bekommen, was sie will, wenn sie akzeptiert, dass die Wissenschaft zugleich mehr und anderes macht, als das, was die Gesellschaft schon weiß. Denn was sie eigentlich will, ist ja neues Wissen, also Wissen, das sie nicht antizipieren kann und Wissen, von dem sie womöglich noch gar nicht weiß, dass es ein für sie wichtiges Wissen sein könnte. Insofern ist es im Interesse der Gesellschaft, einerseits zu sagen, wir wollen, dass ihr das und das forscht, auf der anderen Seite aber gibt es einen Bereich, da reden wir euch überhaupt nicht hinein, denn jedes Hineinreden würde ja bedeuten wir wollen antizipieren können, was da an wissenschaftlichem Wissen herauskommt. Wissenschaftliches Wissen ist nicht nur Wissen, das mit Wahrheitsansprüchen versehen ist, sondern Wissen, das mit dem Anspruch versehen ist, neues Wissen zu sein, das man nicht antizipieren kann.

Deswegen muss es Bereiche geben, wo man mit der Antizipation von Forschungsergebnissen rechnet, das nennen wir „programmorientierte Förderung“, aber es muss eben einen anderen Bereich geben, in dem die Logik des wissenschaftlichen Erkentnissprozesses das Maß der Dinge ist. Moderne Wissenschaftssysteme müssen komplex aufgebaut sein, sie haben eine programmorientierte und eine erkenntnisgeleitete Seite. Das heißt in jedem Fall eine Differenzierung der Entscheidungssysteme. Der experimentelle Forschungsprozess beispielsweise in einem Helmholtz-Zentrum und in einem DFG-finanzierten Sonderforschungsbereich ist nicht unterschiedlich. Was sich aber unterscheidet sind die Entscheidungssysteme, in denen über die Institutionalisierung und die Finanzierung dieser Forschungsarbeiten entschieden wird. In einem Helmholtz-Zentrum spielen bei der Entscheidung, ob ein Projekt finanziert werden soll, nicht nur Fragen der Forschungsqualität eine Rolle, sondern auch Fragen der gesellschaftlichen Relevanzvermutung. Während bei der Entscheidung über einen DFG-Sonderforschungsbereich diese Fragen systematisch keine Rolle spielen, sondern nur die Qualität des beabsichtigten Forschungsvorhabens.

Nun geht es beim Einfluss der Gesellschaft auf die Wissenschaft ja nicht nur um das Themen-Setting, sondern auch darum, wie Forschung betrieben wird. Tierversuche sind ein Beispiel. Welche Problemstellung sehen Sie da?

Das ist so. Und natürlich versucht die Gesellschaft strukturelle Rahmensetzung für Forschung durchzusetzen, auch weil sie mit gesellschaftspolitischen Fragen von besonderer Bedeutung verknüpft sind. Tierversuche sind da ein Thema, die Frage der sozialen Selbsterneuerung der Wissenschaft ist ein anderes Thema, also wie geht man mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs um, welche Rechtsverhältnisse herrschen da, Personalfragen, Gehälter usw. Das sind mehr oder weniger systemweite Fragen, die mit der Unterscheidung zwischen programmorientierter und erkenntnisgeleiteter Forschung nicht viel zu tun haben. Und dazu gehören auch ethische Fragen. Die gewinnen ganz bestimmt an Bedeutung. Sie gewinnen in dem Maß an Bedeutung, in dem die moderne Wissenschaft, insbesondere die moderne Naturwissenschaft, Grenzen des Lebens und des Denkbaren verhandelbar macht. Da entstehen Anschlussprobleme zur Forschung, Fragen der Ethik, der Wertbildung oder der Normierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs.

Da haben alle Forschungsorganisationen und die Förderorganisationen eine genuine Verantwortung. Die DFG-Förderung unterliegt den gesetzlichen Rahmenbedingungen der bioethischen Regulatorik. Es gibt viele Sitzungen in Entscheidungsgremien, in denen zu einem Förderbeschluss gesagt wird: Das Geld fließt erst, wenn eine Unbedenklichkeitserklärung einer Ethikkomission vorliegt.  Bei den Tierversuchen ist das genauso.

Nun hat sich unsere Gesellschaft in den letzten Jahren enorm verändert und sie wird sich weiter verändern. Das bedeutet, nicht mehr allein Institutionen, etwa politische Entscheider, prägen die gesellschaftliche Willensbildung, sondern oft auch freie Organisationen, die noch nicht einmal Mehrheiten hinter sich haben müssen. Wie kann die Wissenschaft mit diesen neuen Anforderungen umgehen?

Darauf habe ich eigentlich  keine Antwort, schon gar keine einfache. Ich könnte Parallelen ziehen zwischen der Entwicklung der modernen Wissenschaft und der Entwicklung des modernen Staats. Dieser bürgerliche Nationalstaat ist etwa gleichzeitig erfunden worden wie die moderne Wissenschaft, mit den Menschen- und Bürgerrechten, die ihn tragen und mit den Verfassungen, welche ihn konstituieren.  Und so offensichtlich es ist, dass die moderne Wissenschaft sich an einer fundamentalen Stelle verändert, so deutlich scheint mir zu sein, dass auch der moderne Nationalstaat eine historisch entstandene und daher auch eine historisch veränderliche Größe ist. Das kann man etwa beobachten an der wachsenden Bedeutung von Nichtregierungsorganisationen, den NGOs, oder man kann es daran beobachten, dass staatliche Ordnungsmacht angesichts der Beschleunigungen an den digitalisierten Finanzmärkten zusehends unter Druck gerät. Man kann das auch daran beobachten, dass bei den großen Freihandelsabkommen, die derzeit in der Debatte sind, es nebenstaatliche Ordnungs- und Konfliktregelungssysteme gibt, also Schlichtungshöfe. Das kannte man bisher aus dem Sport, schon seit langer Zeit. Und ich habe lange gebraucht zu verstehen, dass etwa der Sportgerichtshof des Deutschen Fußballbunds ein vollständig auf dieses Vereinsrecht bezogenes Gremium ist, ohne jede öffentliche Legitimität. Behandelt wird es aber, als ob es etwas wäre wie der Bundesgerichtshof.

Diese Frage, wie die öffentlich finanzierte Forschung damit umgeht, dass die Regulierungskraft von Nationalstaaten sinkt, und dass zugleich die Forschungsstärke von Privatunternehmungen dramatisch wächst – denken Sie nur an die großen fünf Firmen im Silicon Valley, oder daran, dass die Gates-Stiftung 15 Milliarden Dollar für die Beseitigung von Infektionskrankheiten in Afrika ausgibt, das fünffache des Jahresbudgets der DFG – da entstehen neue Akteure in der Forschung, auf die die öffentlichen Wissenschaftseinrichtungen und auch die Nationalstaaten nicht gut vorbereitet sind. Man kann natürlich fragen, was spricht dagegen, dass die Gates-Stiftung so viel Geld für die Bekämpfung der Infektionskrankheiten ausgibt. Dagegen spricht grundsätzlich gar nichts.  Man muss sich nur fragen, welche Folgen hat das, wenn Forschungsagenden zunehmend von den – ganz wertfrei gemeint – Wilkürentscheidungen einzelner Personen abhängig werden und nicht mehr das Ergebnis demokratischer Willensbildungsprozesse sind, die in legitimen Verfahren über Parteien, über Parlamente, über Exekutive mit judikativer Überprüfbarkeit organisiert werden. Da entsteht etwas Neues. Und ich weiß nicht, was das bringt.

Wie ist die Wissenschaft für diese Veränderungen aufgestellt?

„Die Wissenschaft“ ist ja eine Fiktion. Das ist in Wirklichkeit eine Fülle von sozialen Ordnungen, von Wissensordnungen. Ich glaube, dass die gesellschaftlichen Prozesse, die Sie ansprechen – die uns gegenwärtig auch täglich beschäftigen – für die organisierte Wissenschaft, also öffentlich finanzierte Organisationen und Hochschulen, zunächst einmal eine Denk-Herausforderung und dann auch eine Handlungs-Herausforderung sind, deren Dimensionen uns noch nicht richtig klar sind. Wir erkennen sie bislang nur schemenhaft. Ohne dass ich konkrete Antworten anbieten kann, habe ich doch ein Interesse daran, solche Diskussionen zu führen: Wie kann Wissenschaft darauf reagieren, wenn im öffentlichen Diskurs das Lügen kein Problem mehr zu sein scheint; wie kann sie darauf reagieren, wenn die Wirklichkeitskonstruktion vieler Leute geprägt ist durch die Echokammern der sozialen Netzwerke; wie kann sie darauf reagieren, dass es ganz viele soziale Prozesse gibt, in denen angesichts der – insbesondere durch wissenschaftliche Erkennntnisse – ungeheuren und sprunghaft wachsenden Komplexität der Welt beachtliche Teile der Gesellschaft sich auf harte Formen der Komplexitätsreduktion zurückziehen, etwa indem sie die Gesellschaft gegen allen Augenschein für eine homogene Größe halten?

Ich stelle nur die Fragen, ich habe da keine Antworten. Es gibt eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Prozessen, die man unter dem Begriff Irritationsvermeidung zusammenfassen kann. Dazu gehört auch der Populismus, der sich von Irritationen entlastet. Auch die Echokammern der Sozialen Medien sind Formen der Irritationsvermeidung: Ich nehme als Signal der Welt nur wahr, was meinen vorausgesetzten Erwartungen schon entspricht. Oder die Microaggressions-Debatte: In den USA gibt es ganze Kohorten von Studenten, und das fängt auch bei uns an, die erwarten, im Studium nicht irritiert zu werden, das heißt am Ende: nicht gebildet zu werden.

Das sind Beispiele für Kulturen der Irritationsvermeidung. Und diese Formen der Irritationsvermeidung sind die Negation von Wissenschaft. Denn Wissenschaft setzt alles mögliche voraus, Geld, Personal, Rechtsverhältnisse, Infrastruktur usw. Was sie aber vor allem anderen voraussetzt, ist ein intellektueller Habitus, mich irritieren zu lassen durch die Welt und durch das, was andere über die Welt wissen und Neues erfahren. Wenn ich nicht mit dieser Haltung an die Welt herangehe, kann es auch keine gute Wissenschaft geben. Da entsteht eine neue Konstellation für die Wissenschaft. Und ich weiß nicht, wie sie damit umgehen kann, und ich weiß auch nicht, wohin das führt.

Folgt Teil zwei des Interviews ab dem 7. Februar 2017 hier auf dem Blog Wissenschaft kommuniziert: „Wir haben dramatische Vermittlungsprobleme“.