Wissenschaft und Gesellschaft: Aus vielen Perspektiven haben Redner beim „March for Science“ am 22. April dieses spannende Verhältnis beleuchtet. In München stellte Max-Planck-Präsident* Prof. Martin Stratmann aus Sicht des Forschungsmanagers die Leistungen dar, die Wissenschaft – mit den passenden Rahmenbedingungen – für die Gesellschaft erbringt: Mehr als Fakten, sondern Freiheit der Wahl bei Entscheidungen.
#ScienceMarchMUC

Prof. Martin Stratmann ist Physiko-Chemiker und seit 2014 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Er sprach beim „March for Science“ in München. (Foto:MPG)
Ich freue mich, dass heute so viele erschienen sind, um Flagge zu zeigen für Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit. Ganz besonders freue ich mich über so viele junge Gesichter, stehen doch gerade Sie für die Zukunft der freien Wissenschaft in Deutschland! Wissenschaftsfreiheit ist in unserem Land ein Grundrecht, so wie die Meinungs- und Pressefreiheit. Alle drei sind unverzichtbar für den offenen Austausch in einer demokratischen Gesellschaft. Für diese Grundwerte einzutreten, geht uns alle an. Denn die Wissenschaft ist nur so frei, wie es die Gesellschaft ist, das hat uns die deutsche Geschichte gelehrt. Mir persönlich ist es deshalb in zweierlei Hinsicht wichtig, heute hier beim March for Science dabei zu sein: als Wissenschaftler und als Bürger einer weltoffenen, pluralistischen Gesellschaft.
Wir alle sind hier, weil wir Solidarität zeigen wollen mit denen, die unter der Einschränkung ihrer Freiheitsrechte leiden. Weil es uns als Wissenschaftlern, aber auch als Bürgerinnen und Bürger, etwas angeht, was in unserer unmittelbaren Nachbarschaft flussabwärts der Donau, am Bosporus oder auf der anderen Seite des Atlantiks passiert.
Wissenschaftsfreiheit heißt, frei zu entscheiden, woran man forschen möchte – ohne politische Vorgaben oder Beeinflussung. Freie Wissenschaft kann auch unbequem sein – ja, manchmal muss sie es sogar sein. Denn Wissenschaft führt oft auch zu Erkenntnissen, die nicht jeder gerne hört. Aus der sich Konsequenzen ergeben, die uns aus unserer Komfortzone zwingen, weil sie im Widerspruch zu ökonomischen Zielen oder gar zu staatlichen Autoritäten stehen können.
Das betrifft Themen wie den Klimawandel, Umweltschutz, soziale Ungleichheit oder Migration. Und daher gab es immer schon Versuche, Wissenschaft einzuschränken:
- indem man Strukturen abbaut, die für freie Wissenschaft essentiell sind,
- indem man die finanzielle Förderung bestimmter Fächer einschränkt,
- indem man Gesetze schafft, um wissenschaftliche Institutionen zu schließen wie derzeit in Ungarn,
- indem man Wissenschaftler einfach auf die Straße setzt oder sogar wegsperrt wie derzeit in der Türkei.
Wissenschaft braucht Internationalität, sie braucht Vielfalt, und sie braucht Freiheit. Nur dort, wo all das gegeben ist, ist erfolgreiche Wissenschaft überhaupt denkbar. Das gilt in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts mehr als jemals zuvor.
Dafür lohnt es sich, auf die Straße zu gehen! Denn die aktuellen Ereignisse zeigen uns: Gesellschaftliche und wissenschaftliche Freiheit sind nicht selbstverständlich. Wir spüren den Druck auf Wissenschaftler auch bei uns. Denn in der Max-Planck-Gesellschaft arbeiten Forscherinnen und Forscher aus über 100 Ländern dieser Erde.
Und selbstverständlich registrieren wir,
- wenn türkische Gastwissenschaftler ihre Forschungsprojekte bei uns abbrechen müssen, weil sie in die Türkei zurückbeordert werden,
- die Reisemöglichkeiten ausländischer Max-Planck-Wissenschaftler durch verschärfte Einreisebestimmungen beschränkt oder
- der Austausch und die offene Diskussion über bestimmte Themen behindert werden.
Wir sind als Bürger wie als Wissenschaftler in Deutschland frei, über jedes Thema zu sprechen und zu schreiben. Doch jenseits unserer Grenzen können die Gesetze eines Landes oder kulturelle Verbote eine ganz andere Situation schaffen. Wir sollten daher wachsam sein, um einer schleichenden Aushöhlung der Wissenschaftsfreiheit gerade in Europa rechtzeitig entgegenzutreten. Wie die Meinungs- und die Pressefrei- heit ist die Freiheit der Wissenschaft ein Grundpfeiler jeder demokratischen Gesellschaft.
Unsere demokratische Gesellschaft ist auf kritisches Denken und sachkundige Analyse angewiesen. Erkenntnis aus den Natur- wie auch den Sozial- und Geisteswissenschaften stellen die Fakten bereit, welche eine wichtige Grundlage für politische Entscheidungen sind.
Wissenschaftliche Erkenntnisse sind Treiber und Garant für den Fortschritt – sie sichern unsere Überlebensfähigkeit. Das darf die Wissenschaft aber nicht überheblich machen! Wir als Wissenschaftler müssen uns immer über die Begrenztheit unseres Wissens im Klaren sein. Wir müssen uns immer unserer Verantwortung bewusst sein, den Menschen und der Gesellschaft gegenüber. Die Wissenschaft muss sich – wahrscheinlich noch mehr als in der Vergangenheit – einem Dialog stellen, damit wissenschaftliche Erkenntnisse verstanden und die Gesellschaft auf der Basis des vorhandenen Wissens entscheiden kann, wie sie dieses anwenden möchte.
Wogegen wir uns aber wehren müssen, das sind sogenannte „alternative Fakten“. Dinge werden einfach behauptet, obwohl sie dem Stand des Wissens widersprechen, um die Menschen zu verwirren und bewusst in die Irre zu leiten und um sie zu Handlungen zu bewegen, die ihren eigenen Interessen eigentlich zuwiderlaufen.
Wir können nicht akzeptieren, dass in Zeiten, in denen der Mensch diesen Planeten verändert wie nie zuvor in der Geschichte, Entscheidungen getroffen werden, ohne auf wissenschaftliche Fakten zurückzugreifen. Wir dürfen uns nicht dümmer stellen als wir sind!
Und eines haben wir gelernt: Wir dürfen gesellschaftliche und wissenschaftliche Freiheit nicht für selbstverständlich erachten. Ich weiß: Die Welt um uns herum wird immer komplexer. Auch die Probleme, vor denen wir als moderne Gesellschaft stehen, sind komplex und oft schwer zu verstehen. Sie sind übrigens auch für Wissenschaftler schwer zu verstehen, denn jede Frage, die wir meinen, gerade beantwortet zu haben, wirft zahlreiche neue Fragen auf. Da kann es leicht dazu kommen, dass sich eine Kluft auftut zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einerseits und Bürgerinnen und Bürgern andererseits. Eine Kluft, die gerade die Basis legt für „alternative Fakten“, die auf Grund ihrer Einfachheit zu überzeugen scheinen.
Wir als Wissenschaftler dürfen deshalb nicht müde werden, gerade zu diesen komplexen Problemen mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, um die Kluft zu überwinden und „alternativen Fakten“ den Boden zu entziehen. Die Freiheit, die wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genießen, geht mit einer großen Verantwortung einher: Nämlich der Verantwortung, unser Tun in den gesellschaftlichen Dialog zu stellen und unsere Erkenntnisse zu erklären.
Der Trumpf der Wissenschaft ist dabei gerade nicht die Schaffung unveränderlicher Wahrheiten – das wäre eine völlige Überforderung der Wissenschaft –, sondern das Spektrum an Möglichkeiten, welches die Erkenntnisse der Wissenschaft unserer Gesellschaft eröffnen. Sie eröffnen uns die Freiheit der Wahl. Das kann Wissenschaft leisten – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
*) Prof. Stratman war eines von zwei Mitgliedern der Allianz der Wissenschaftsorganisationen, die beim „March for Science“ gesprochen haben (Frau Prof. Wintermantel, DAAD, sprach – so ihre Pressestelle – nach handschriftlichen Notizen und kann daher hier nicht erscheinen). Die „Heilige Allianz“ hat den „March for Science“ offiziell unterstützt.
Bisher erschienen:
- Helmuth Trischler: Fünf „Lessons to Learn“ für die Wissenschaft
- Ranga Yogeshwar: „Zuviel Vereinfachung spaltet“
- Ludger Gaillard: Große Vorbilder aus Göttingen
Demnächst: Jutta Allmendinger: “Um Vertrauen werben”
Diese und weitere Beiträge der Reihe mit den interessantesten Reden zum „Marsch für die Wissenschaft“ in Deutschland.
Mai 22nd, 2017 → 20:53
[…] was war und was nun kommen soll: ein paar Beiträge aus Deutschland hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier und international hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier. [20:45 […]
LikeGefällt 1 Person