Schütte:“Die Entgrenzung der Wissenschaft“ – Wissenschaftskommunikation nach Corona

Posted on 23. Juni 2020

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Wem nützt Wissenschaftskommunikation? In einem komplexen Förderprogramm „Wissenschaftskommunikation hoch drei“ verknüpft die Volkswagenstiftung Fachwissenschaft, Kommunikationsforschung, Medienpraxis und gesellschaftliche Problemstellungen (siehe Euro-Millionen für die Wissenschaftskommunikation). „Wissenschaft kommuniziert“ sprach mit dem Generalsekretär der Volkswagenstiftung, Dr. Georg Schütte, über Ziele und Perspektiven dieses Programms nach den Corona-Erfahrungen. Und darüber, weshalb Wissenschaftskommunikation mehr braucht als Institutionen-PR.

Dr. Georg Schütte, von Hause aus Medienwissenschaftler, aber erfahren im Forschungsmanagement (Alexander von Humboldt-Stiftung) wie in der Forschungspolitik (Staatssekretär im BMBF), ist seit Januar 2020 Generalsekretär der VolkswagenStiftung, des größten privaten Forschungsförderers in Deutschland. (Foto: P.Bartz/VolkswagenStiftung)

Wissenschaft kommuniziert: Meine erste Frage ist sehr naheliegend: Warum macht die Volkswagenstiftung ein Förderprogramm wie „Wissenschaftskommunikation hoch drei“?

Schütte: Die Corona-Krise, wenn ich dieses aktuelle Beispiel bemühen darf, hat ja sehr deutlich gezeigt, wie wir als moderne Gesellschaft nachdrücklich darauf angewiesen sind, dass Wissen, das in der Wissenschaft entsteht, kontinuierlich weiterentwickelt wird für unser Wohlergehen, für das Zusammenleben, für das Zusammenwirken in dieser Gesellschaft. Moderne Gesellschaften kommen ohne Wissenschaft nicht mehr aus.

Diese Wissenschaft muss sich artikulieren, sie muss politikrelevant werden, und sie muss sich auch gegenüber einer größeren Öffentlichkeit artikulieren. Das ist ein Prozess, der auch in Deutschland schon in den neunziger Jahren begann, mit Initiativen wie „Push“ (Public Understanding of Science and the Humanities). Push wurde als quasi eindirektionales Unterfangen gesehen, das damals mehr oder minder dazu diente, Wissenschaft zu legitimieren, die ja auch öffentlich finanziert wird. Die sehr einfache Vorstellung lautete, wenn man es nur klar genug verständlich macht und alle dieses Verständnis nachvollziehen, dann wird man verstehen, warum man Wissenschaft braucht.

Auch damals haben Menschen natürlich schon komplexer gedacht, aber heute sehen wir, wie komplex dieses Zusammenspiel wirklich ist. Das ist nicht eindirektional. Wissenschaft hat da nicht die „Silver Bullet“, die magische Kugel, die man nur abschießen muss und dann wird es funktionieren. Wissenschaft ist heute eine Wissenschaft, die sich in einen Dialog begibt und die sich gegenüber unterschiedlichen Publica erklären muss. Die sind tatsächlich ganz verschieden. Wenn etwa Wissenschaft und Politik miteinander interagieren, ist das ein anderes Zusammenspiel, als wenn Wissenschaft und eine breite Öffentlichkeit miteinander in Kontakt kommen. Dieses Zusammenspiel mit den unterschiedlichen Zielgruppen ist aber notwendig. Dafür brauchen wir eine gute Wissenschaftskommunikation.

 

Das Programm „Wissenschaftskommunikation hoch drei“ ist sehr ausgefeilt, sehr komplex für ein Förderprogramm. Zum Beispiel streben Sie in den geförderten Forschungszentren an, dass Fachwissenschaft und Wissenschaftskommunikationsforschung zusammenarbeiten, und auch die Zusammenarbeit mit nichtakademischen Praktikern. Weshalb sind im Förderprogramm solche Punkte besonders hervorgehoben?

Es ist komplex, weil erstens der Gegenstand komplex ist, weil wir aber auch eine mindestens doppelte Zielsetzung verfolgen: Wir wollen mit diesem Programm anregen, dass Wissenschaft den Prozess der Kommunikation über wissenschaftliche Ergebnisse reflektiert, auch in den vielfältigen Wirkungszusammenhängen von einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Und zwar um zunächst einmal ein besseres Verständnis zu gewinnen. Aber dieses Verständnis ist ja kein Selbstzweck. Natürlich ist es zunächst einmal ein abstraktes Erkenntnisinteresse, je mehr wir wissen umso besser. Aber es soll keine Beschäftigung in dem traditionellen Stereotyp des so genannten Elfenbeinturms sein, sondern dieses Wissen soll relevant werden. Es soll relevant werden für unterschiedliche Gruppen, und eine wesentliche ist die der Medienpraktikerinnen und der Medienpraktiker. Aber auch hier gibt es kein einfaches, eindirektionales Verhältnis nach dem Motto: „Wenn die Wissenschaft nur genug erkennt, dann kann man daraus die einfachen Schlussfolgerungen ziehen, und die wird man dann den Medienpraktikern auf den Weg geben und dann wird es funktionieren“.

Ich sehe es eher so, dass das ein Wechselspiel wird, wo auch die Wissenschaft aus den Problemlagen lernt, die aus der Praxis heraus artikuliert werden, dass diese Fragen auch wieder inspirierend, anregend, impulsgebend sind für die Wissenschaft. Ich habe ein Beispiel: Ich war in meiner Tätigkeit im Ministerium unter anderem dafür verantwortlich, in Berlin die molekularbiologische Grundlagenforschung und die klinische Forschung der Charité zusammenzubringen im Berliner Institut für Gesundheitsforschung. Die Grundlagenforscherinnen und -forscher und die klinisch Tätigen, die hatten immer eine Metapher, indem sie sagten “ From the bench to the bedside, and from the bedside to the laboratory bench“.

Wir wollen die Entstehung von Zentren der Wissenschaftskommunikationsforschung fördern und in diesen Zentren soll es ein Stück weit ähnlich funktionieren, nämlich dass die Wissenschaftler aus den Fachdisziplinen sich mit den Kommunikationsforscherinnen und -forschern auseinandersetzen, dass aus diesem Dialog Anregungen kommen für die Medienpraxis. Aber auch, dass aus der Medienpraxis heraus Problemlagen hineingetragen werden in die wissenschaftliche Reflexion, um dort weiter bearbeitet zu werden.

Nur so, in dieser Dreiecksbeziehung wird es gehen. Ich denke sogar, dass es mehr als eine Dreiecksbeziehung werden wird. Weil natürlich, wenn wir über Medienpraxis reden, dann sind es Journalistinnen und Journalisten. Aber es sind auch diejenigen, die individuell über Blogs in Online-Medien kommunizieren. Also ein breites Spektrum von Vermittlungstätigkeiten, die immer wieder auch eine Schnittstelle zu einer breiteren Öffentlichkeit herstellen. Und die Frage, wie wir auch diese Konzepte von Öffentlichkeit und diese Repräsentanten von Öffentlichkeit in die Forschung mit einbeziehen, wird eine sehr spannende sein.

Kurzum, Sie haben recht: Es ist eine komplexe Ausschreibung. Wir haben lange diskutiert, wie komplex sie sein darf. Wir haben ein Dreiecksverhältnis momentan vorgegeben. Ich bin aber offen für Überraschungen, die aus den Anträgen kommen, die jetzt gestellt werden. Offen auch in der Hinsicht, dass ich durchaus neugierig bin, ob es bei diesem Dreieck bleibt oder ob es ein Vieleck wird.

 

Aber Sie haben die professionellen Öffentlichkeitsarbeiter der wissenschaftlichen Institutionen aus diesem Spiel herausgenommen. Warum das?

Weil wir verhindern wollten, dass das Programm wahrgenommen wird als eines zur Optimierung von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Das ist zwar ein legitimes Interesse, dies zu tun. Aber uns war wichtig, sehr deutlich zu machen, dass wir die wissenschaftliche Reflexion wollen und den innerwissenschaftlichen Diskurs. Wir wollen also nicht verharren bei einer rein praktischen Perspektive. Und weil die Gefahr besteht oder die Interpretation so nahe liegt, haben wir es umso deutlicher anders akzentuiert.

 

Sie sagten vorhin, Sie wollten mit dem Programm auch dazu beitragen, dass Wissenschaft darüber reflektiert, wie sie Wissenschaft in die Öffentlichkeit vermittelt. Ist denn das jetzt noch nötig, wo Wissenschaft und Wissenschaftler in Zeiten von Corona so oft in der Öffentlichkeit stehen wie nie zuvor?

Das ist eine spannende Entwicklung! Nehmen wir nur einmal das WiD-Wissenschaftsbarometer als Chronik, also eine Umfrage, die zweimal stattgefunden hat, wo wir sehen, dass in der ersten Phase der Corona-Krise, im Lockdown, 61 Prozent der Befragten angaben, dass sie ein hohes Vertrauen in Wissenschaft haben. Das ist ein Wert, der lange nicht mehr so hoch war. Ich weiß nicht, ob er je so hoch war. In diesem Sinne haben Sie recht, es ist eine ganz besondere Zeit mit einem besonderen Vertrauensverhältnis.

Eine zweite Befragung, jetzt unlängst, hat gezeigt, dass dieser Höchstwert den Zenit bereits überschritten hat. Wir sind jetzt bei etwa 50 Prozent gelandet. Am 18. Juni habe ich in der FAZ eine Allensbach-Studie gesehen, die ein im historischen Vergleich ähnlich ungewöhnliches Vertrauenshoch von 45 Prozent für die Wissenschaft bestätigt. Die Frage wird sicherlich sein: Wird dies so bleiben, wie wird es sich modifizieren?

Was sicherlich auf Dauer bleiben wird, ist ein Prozess, den ich als Prozess der Entgrenzung von Wissenschaft beschreibe, und zwar eine Entgrenzung in vielfacher Hinsicht. Die erste haben wir zu Beginn dieses Gesprächs aufgezeigt: Wissenschaft wird, das hat die Corona-Krise gezeigt, zunehmend relevant für die Gestaltung unserer Zukunft. Das heißt: Auch die Fragen an die Wissenschaft, in die Wissenschaft hinein, von externen Akteuren, werden zunehmen. Wissenschaft muss sich hier stärker erklären und diese Erwartungen der Öffentlichkeit besser erfüllen.

Der Prozess, wie Wissenschaft funktioniert, entgrenzt sich methodisch und instrumentell, mit neuen Verfahren, die tiefgreifender in das Umfeld eingreifen als wir es bisher kennen – bis hin zu den ethischen Dimensionen, die wir beispielsweise in den molekularbiologischen und genetischen Verfahren momentan sehen. Wissenschaft entgrenzt sich aber auch in ihrer eigenen Publikationspraxis. Das, was wir als Open Science diskutieren, was mit Open Access seinen Anfang nahm, über Open Data dann seine Fortsetzung gefunden hat, geht momentan weiter.

Die Corona-Krise zeigt, dass momentan das traditionelle Peer-Review-Verfahren zugunsten einer zeitnahen Veröffentlichung hintangestellt wird, wo man mit sogenannten Preprints arbeitet, die ja im eigentlichen Sinne gar nicht mehr gedruckt werden, sondern Pre-Onlines sind, also sehr schnell digital veröffentlicht werden. Man hofft damit, wenn man es euphemistisch beschreibt, auf eine Schwarmintelligenz der Rezipienten, die in einer öffentlichen Debatte solche Vorveröffentlichungen dann mitdiskutieren und Qualität sichern, alternativ zum langwierigen Peer Review, der sich ja in den letzten Wochen wiedermal als durchaus fehleranfälliges System erwiesen hat.

Was hier entsteht, ist ein neuer Kommunikationsraum, wo Expertinnen und Experten mit Laien gemeinsam solche Vorveröffentlichungen diskutieren. Damit entsteht aber auch die neue Herausforderung für die Wissenschaft, jetzt noch einmal zu erläutern, wie diese Verfahren funktionieren. Wissenschaft muss sich also erklären.

Was will ich mit alldem sagen? Wir erleben einen sehr dynamischen Prozess, wo ich nicht sagen würde: Jetzt, nachdem alle in der Krise gesehen haben, wie wichtig Wissenschaft ist, ist die Welt in Ordnung. Die Welt wird kompliziert bleiben und unter Umständen sogar noch komplizierter werden.

Damit wird der Orientierungsbedarf zunehmen. Und wer schafft diese Orientierung? Welche Erwartungen werden an Wissenschaft gestellt, um Orientierung zu stiften? Welche Erwartungen werden an Politik gestellt, um auf dieser Basis Entscheidungen zu treffen? Und welche Erwartungen artikuliert die Öffentlichkeit, um sich zurechtzufinden in der Vielfalt der Positionen und auch der politischen Handlungsoptionen? Das ist ein breites Spektrum von Fragen. Da habe ich gar keine Sorge, dass den Zentren für Wissenschaftskommunikationsforschung langweilig wird. Ganz im Gegenteil.

 

Sie haben schon darauf hingewiesen: Es muss sich noch erweisen, wie lange die Popularität der Wissenschaft in der Bevölkerung anhält. Schon jetzt schalten einzelne Medien um auf Konfrontation. Ich nenne als Beispiel den Disput von Prof. Drosten mit der BILD-Zeitung. Das ist für die Wissenschaft ja ganz neu, aber die Wissenschaftskommunikation muss damit fertig werden. Wie kann sie das?

Da bin ich ganz bei Ihnen. Was da passiert ist, dass die Eigendynamiken aus dem Medienbereich und die Eigendynamiken der Wissenschaft aufeinander prallen – ich nenne das immer die Systemrationalitäten. Also mediale Formen, die unter anderem nach Konflikten suchen, nach der schnellen, bipolaren Auseinandersetzung, und Konventionen der Wissenschaft, die in dem Sinne in anderen Zeitdimensionen arbeitet, mit Vorläufigkeiten, mit ungesichertem Wissen, das schrittweise validiert wird. Das ist etwas anderes als schwarz oder weiß, richtig oder falsch.

Dann gibt es Personalisierungstendenzen. Auch das ist neu. Wissenschaft ist zunächst einmal nicht an Personen gebunden in dem Sinne, dass die Person für das Ergebnis steht. Wissenschaft ist natürlich an die Kreativität von einzelnen Personen gebunden, es gibt auch charismatische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Aber das wissenschaftliche Ergebnis ist im Selbstverständnis der Wissenschaft ein Stück weit von der Person getrennt und offen für die Debatte, für die Überprüfung, für die Weiterentwicklung. Medial wird Vertrauen dagegen Personen zugeschrieben. Da steht die Person für die Sache.

Auch das sind andere Rationalitäten, die da zum Ausdruck kommen. Wenn es medial darum geht, das Neue, die Veränderung, die Dramatik darzustellen, dann gibt es nichts besseres als zwei unterschiedliche Positionen in der Wissenschaft, die noch dazu von zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten vertreten werden. Dann haben Sie eine ideale Konstellation zur Skandalisierung. Und dazu sagen wir: Es ist eine spannende Frage, diese Rationalitäten nur erst einmal ein Stück weit zu verstehen und dann zu fragen: Wie geht man damit um? Und danach Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler darüber aufzuklären,  in welche Situationen sie sich hineinbegeben und wie sie die Kluft zwischen den Systemlogiken meistern.

Wenn Sie mir eine Ergänzung erlauben: Dass Professor Drosten in dieser Situation, nicht so untergegangen ist wie andere Personen, die in den Wallraff-Büchern der siebziger und achtziger Jahre über die BILD-Zeitung beschrieben werden, liegt auch an einer neuen medialen Situation. Jemand wie Herr Drosten, der mit seinen Podcasts in der Spitze bis zu 15 Millionen Hörerinnen und Hörer erreicht, hat plötzlich einen anderen direkten, unvermittelten Zugang zu einem Publikum, das der BILD-Zeitung an dieser Stelle nicht mehr bedarf. Das ist eine neue Situation. Die hat dazu beigetragen, dass er nicht in einem solchen Konflikt verschlissen wurde.

 

Herr Drosten hat diesen Konflikt sehr gut bewältigt. Er hat, glaube ich, im Laufe dieser Krise eine Menge über die Vorgänge gelernt, die in der Gesellschaft oder in den Medien ablaufen. Kann man erwarten, dass dies alle Wissenschaftler so lernen und verinnerlichen, dass sie in einer Gesellschaft anders behandelt werden, als wenn sie sich im wissenschaftlichen Raum befinden?

Ich glaube nicht. Wir würden ja auch von keiner Ärztin, keinem Arzt erwarten, dass sie die gesamten Alltagszusammenhänge aller Patientinnen und Patienten zuhause kennen. Keiner Profession wird ein Multitasking in die unterschiedlichsten Lebens- und Gesellschaftsbreiche zugeschrieben. In dem Sinne muss auch die Wissenschaft die Räume haben, um zunächst einmal in ihrem eigenen Bereich, nach den eigenen Maßstäben, mit ihren eigenen Instrumenten und Methoden zu arbeiten. Zum zweiten: Da gibt es sicherlich Talente, die das Zusätzliche können. Das scheint ja auch eine Begabung von Herrn Drosten zu sein: Ich würde einmal unterstellen, in Teilen ungelehrt, gleichwohl tut er etwas, was kommunikativ hochgradig angemessen ist. Den Communicator-Sonderpreis erhält er jedenfalls hochverdient.

Wir registrieren durchaus auch in der Förderung der Volkswagenstiftung, dass jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein wachsendes Interesse an Wissenschaftsvermittlung haben. Ein Indikator dafür sind die Medienfortbildungen, die das Nawik für uns in Hannover durchführt– zwei, drei Tage Kamera- und Mikrofontraining. Da gibt es eine anhaltend große Nachfrage. Es wird also wahrgenommen, dass als Randqualifikation auch eine gewisse mediale, kommunikative Kompetenz erworben werden sollte  Und das zu stärken, das auszubauen, zählt zu den Zielen unseres Förderhandelns in der Volkswagenstiftung.

Vielleicht werden aus den Zentren, die wir gerade ausschreiben, relevante Hinweise kommen, wie Strukturen aufgebaut werden an Universitäten und Forschungseinrichtungen, um dann die Drosten-Talente zu erkennen oder andere so fortzubilden, dass sie eine solche Rolle ausgestalten können. Ich glaube, das könnte eine der praktischen Folgerungen sein, ohne dass ich damit sagen will, dass jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler ein Tagesschau-Star oder YouTube-Erklärer werden muss. Wenn alle Studierenden, unabhängig vom Fach, im Laufe ihrer Ausbildung wenigstens ein Modul  Wissenschaftskommunikation absolvieren würden, wäre bereits viel gewonnen. Dann bekämen alle zumindest die Chance, ihre Affinität für Wissenschaftsvermittlung überhaupt einmal auszuloten.

 

Mit meiner Frage zielte ich auch darauf, ob sich ein Haltungswandel in der Wissenschaft abzeichnet, ob die Wissenschaft also künftig mehr über die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft reflektiert wie auch über die Rolle der Gesellschaft in der Wissenschaft? Ist das nicht ein großes Aufgabenfeld für die Wissenschaftskommunikation?

Das ist eine spannende Frage. Wenn ich einen kurzen Exkurs in den eigenen Erfahrungsraum machen darf: Ich habe vor mehreren Jahren eine intensive Debatte darüber geführt, ob das gesamte Thema der Nachhaltigkeit, des verantwortungsvollen Umgangs mit natürlichen Ressourcen, nicht eine wesentliche Dimension von Wissenschaft und Wissenschaftsförderung werden müsse. Und ein Gegenargument lautete, durchaus mit guten Gründen, verbauen Sie nicht mit einer aktuellen politischen Programmatik die Erkenntnischancen, die wir in der Wissenschaft haben. Die von Neugier getriebene Grundlagenforschung, die nicht unmittelbar auf solche Zwecke ausgerichtet ist, die muss ihren Platz haben. Die Debatte wurde damals vom früheren Umweltminister Klaus Töpfer angestoßen, den ich sehr schätze. Er stellte die Rückfrage an die Wissenschaft: Von all den vielen Fragen, die immer auch durch wissenschaftliche Neugierde getrieben und gerechtfertigt sind, kann es nicht sein – und wäre es nicht angezeigt – dass man auch ein paar der Fragen aufgreift, die gesellschaftlich relevant sind?

Dies ist das Spannungsverhältnis: Hinreichend Freiräume für das Unbekannte, für den Erkenntniszufall zu schaffen, für das, wo wir nicht wissen, wofür es kurz oder mittelfristig nützlich und sinnvoll ist. Aber gleichzeitig, und da sehe ich eine Verantwortung der Wissenschaft, nicht zuletzt im Kontext der UN-Agenda 2030, auch zu fragen: Was sind das für Fragen, die wir bearbeiten müssen? Ich mache das eine Stufe konkreter: Ich habe gestern Nacht eine Podiumsdiskussion geführt, in Vorbereitung für das Lindauer Nobelpreisträgertreffen, wo junge Menschen normalerweise am Bodensee Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger treffen sollen. In diesem Jahr passiert das alles virtuell. Bei mir zu nächtlicher Stunde, weil es von der amerikanischen Westküste über Europa bis nach Australien ging.

Ja, wir brauchen dieses von Ihnen offenbar vermisste Bewusstsein, dass Wissenschaft auch gesellschaftlich relevant ist. Wenn ich über Entgrenzung von Wissenschaft gesprochen habe, was wir ja gegenwärtig sehen, ist auch ein zunehmendes Engagement unterschiedlicher Öffentlichkeiten zu berücksichtigen, die wissenschaftliche Agenden nicht nur mitdiskutieren, sondern bisweilen auch mitgestalten wollen. Auch mit dieser gesellschaftlichen Realität muss sich Wissenschaft beschäftigen und auseinandersetzen.

 

Heißt das für die Wissenschaftskommunikation aber nicht auch, dass sie über die reine Instituts-PR hinauskommen muss zu einer echten, im Sinne des Wortes, Kommunikation der Wissenschaft?

Oh ja, unbedingt, unbedingt. Es wäre fatal, da hängen zu bleiben. Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu dem, was Sie Instituts-PR nennen. Einerseits habe ich Verständnis für jegliche Art von Public Relations, weil auch Institutionen in einem öffentlichen Darstellungs- und Rechtfertigungszwang sind. Deswegen ist es durchaus nachvollziehbar, dass dies geschieht. Ich sehe ja auch, dass sich dieses Feld zunehmend professionalisiert, dass es sich von den Formaten, von den Inhalten her weiterentwickelt. Das ist eine positive und gute Entwicklung. Und die muss in der Tat weitergehen.

Wenn wir aber über Wissenschaftskommunikation reden, ist das ein viel umfassenderes Feld als PR für die eigene Institution. Ich glaube, das wird in der institutionellen Wissenschafts-PR längst ähnlich gesehen. Am Ende muss jede Hochschule und Forschungseinrichtung für sich klären, welchem Aspekt man wieviel Gewicht gibt: der Eigen-PR oder der gesellschaftlichen Aufklärung.

 

Dr. Georg Schütte, Jg. 1962, ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler. Seit dem 1. Januar 2020 ist er Generalsekretär der VolkswagenStiftung. Von Dezember 2009 bis August 2019 war Schütte Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Zuvor war er Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, Direktor der Deutsch-Amerikanischen Fulbright-Kommission und forschte als Medienwissenschaftler an der Universität Siegen.