Wenn Wissenschaftler träumen – „Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde“

Posted on 2. Dezember 2017

6


Blogautor Wissenschaft kommuniziert

„Opus maximus“ des Journalismus-Forschers Prof. Stephan Russ-Mohl: Gesellschaft und „Fake news“.

Eigentlich bietet dieses Buch alles, um es zu einem Bestseller unter den Sachbüchern zu machen:

  • Ein topaktuelles Thema – etwas wichtigeres ist in der gesellschaftspolitischen Diskussion derzeit wohl kaum zu finden, als die Abkehr von den Fakten und die Hinwendung zu Lüge, Unwahrheit oder Bullshit, als Grundlage für Entscheidungen. Vor allem wenn man die Situation aus der Perspektive der Wissenschaftskommunikation betrachtet.
  • Einen höchst kompetenten Autor: Prof. Stephan Russ-Mohl betreibt seit 2004 an der Università della Svizzera italiana das Europäische Journalismus-Observatorium (EJO), hat vorher an der FU Berlin Publizistik gelehrt und war Mentor des historischen Programms der Bosch-Stiftung zur Ausbildung von Wissenschaftsjournalisten. Ein profunder Kenner und anerkannter Wissenschaftler.
  • Ein locker und verständlich geschriebenes Sach- und Fachbuch: Russ-Mohl bildet nicht nur Journalisten aus, er kann auch selbst schreiben – und recherchieren! Das Buch bietet hunderte von Fakten und Hintergründe zum Zeitalter der „Fake-News“ und „alternativen Fakten“, das ja noch nicht einmal ein halbes Dutzend Jahre alt ist.

Doch irgendwo verliert der Kommunikationsforscher den Blick für die Realitäten. Einerseits, wenn es an die Analyse der unzähligen Fakten geht, die er auftischt, da verengt sich sein Blick vor den gesellschaftlichen Realitäten. Andererseits wenn er nach Auswegen sucht aus dieser Krise der Glaubwürdigkeit von Fakten, Experten und Eliten. Doch der Reihe nach:

Por. Stephan Russ-Mohl: Journalismusforscher und Medienkenner aus Lugano.

Russ-Mohl alarmiert im Untertitel seines Buches „Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet“. Er sieht also die Fundamente unserer Gesellschaft in Gefahr. In der Analyse aber befasst er sich vor allem mit den Medien, den Journalisten und den staatlichen oder öffentlich-rechtlichen Regulierern. Natürlich sind von ihnen viele Fehler gemacht worden – und werden weiter gemacht, jede Menge. Doch nicht nur sie waren und sind noch immer von dem völlig neuartigen Medium Internet überfordert. Andere Bereiche haben ebenso gravierende Fehler gemacht, von der Technik bis hin zum Erziehungswesen. Tim Berners-Lee etwa erfand das WorldWideWeb für den weltweiten Informationsaustausch der Wissenschaftler, die am europäischen Kernforschungszentrum CERN arbeiten. Da spielt Sicherheit nur eine geringe Rolle. Ich habe selbst erlebt, wie er unter dem Schlagwort „Trusted Web“ versuchte, Sicherheitstechniken in die Strukturen des Webs einzuziehen, als er entdeckte, wie das Internet auf Basis seiner Erfindung zum weltweiten Massenmedium wurde. Vergeblich, zu spät. Die Verantwortlichen für Bildung und Erziehung haben heute noch nicht eingesehen, wie überlebenswichtig Medienwissen für jeden Einzelnen und für die demokratische Gesellschaft von heute und morgen ist. Da diskutieren sie noch immer, ob dies ein neues Schulfach werden soll.

Das sind nur zwei Beispiele, wo Russ-Mohl trotz seiner Alarmrufe zu kurz greift, wenn er vor allem die Medien in der Pflicht sieht. Weitgehend aber hebt er von der Realität ab, wenn es darum geht, welche Auswege es für die Demokratie gibt, um sich gegen ihre Feinde zu wehren. Er schlägt ein Bündnis von Journalismus und Wissenschaft vor: Zwei Partner, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen und zusammen als Felsen in der Brandung das Festland Demokratie gegen die anrollenden Wogen der Fake-News und Alternativen Fakten schützen sollen. Immerhin, er scheint selbst seine Zweifel zu haben, stellt die Idee aber nicht grundsätzlich infrage – so absurd sie ist. Denn beide Partner stammen aus völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen mit ganz verschiedenen Leitideen, Wertvorstellungen und Zielen: Hie die Wissenschaft, öffentlich finanziert, auf ewige Wahrheiten bedacht, mit ihrem bewusst isolierten, eher gesellschaftsfernen Selbstverständnis. Da der Journalismus, dem es nicht um ewige Wahrheiten, sondern um gecheckte Tatsachen des Tages geht, der im größten Teil privatwirtschaftlich organisiert, damit auch auf Gewinne bedacht sein muss, der von seinem Selbstverständnis offensiv der Gesellschaft zugewandt ist, der um Schlagzeilen und Leser in der Konkurrenz der Aufmerksamkeit ringen muss. Ein Bündnis zwischen beiden – das funktioniert nie.

Und schließlich hat Russ-Mohl vielleicht eine Tatsache gar nicht bedacht: Medien-Revolutionen waren in der Geschichte schon immer mit gesellschaftlichen Umbrüchen verbunden. Das Zeitalter der Aufklärung wäre ohne die Erfindung des Buchdrucks gar nicht denkbar. Genauso wenig unsere heutige Demokratie ohne die unidirektionalen Massenmedien in Print, Rundfunk und Fernsehen. Könnte es nicht sein, das wir den Anfang eines neuen gesellschaftlichen Umbruchs erleben, ausgelöst durch das total freie und interaktive, also multidirektionale Medium Internet? Dass wir und noch viel mehr unsere Kinder in Zukunft einfach mit Fake-News und alternativen Fakten, mit Zweiflern an Tatsachen, Experten und falschen Welterklärern leben müssen? Ich denke, anstatt in Träume abzuheben wäre jeder, der die Demokratie für ein hohes Gut hält, besser beraten, darüber nachzudenken, wie wir uns auf eine derartige Entwicklung vorbereiten können. Dieses Nachdenken über die Gesellschaft der Zukunft gilt übrigens nicht nur für Medien und Journalisten, es gilt ebenso für die Wissenschaft und die Wissenschaftskommunikation, die auch in einer derartigen Gesellschaft existitieren können müssen.