Jean Pütz: Wissenschaft und Demokratie im postfaktischen Zeitalter – Ein persönliches Manifest zu #Wisskom-Journalismus

Posted on 31. Januar 2019

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Wissenschaftsjournalismus-Urgestein Jean Pütz verfolgt mit 82 Jahren noch immer die aktuellen Diskussionen um Wissenschaft und Gesellschaft. In einem spontanen Zuruf zur Forderung der „Siggener Impulse“ nach einem Bündnis von Wissenschaft und Journalisten unterstreicht er die große Rolle von Fakten für die Demokratie und fordert: „Vernunftbegabte aller Länder vereinigt Euch“. Hoffen wir, dass dies nur besser ausgehen kann, als das historische Manifest, das die Proletarier aller Länder aufrief, sich zu vereinigen ;-):

Wissenschaftsjournalist und Demokrat: Zuruf von Jean Pütz zur Diskussion um die „Siggener Impulse 2018“.

Das persönliche Manifest eines Demokraten

Noch nie in der Geschichte der Menschheit konnte der Einzelne, das Individuum, über so viele Nachrichtenquellen verfügen wie heutzutage. Auf den ersten Blick müsste das der Idee der Demokratie Vorschub leisten. Leider ist das Gegenteil der Fall.

Dem steht die von mir als sozial-psychologische Gesetzmäßigkeit formulierte ‘selektive Wahrnehmung‘ entgegen. In der Praxis bedeutet dass, das Menschen vorwiegend die Nachrichten aufnehmen und verarbeiten, die in ihre bekannte Strukturen passen. Darunter befinden sich – insbesondere bei vorwiegend emotional reagierenden Bürgern – eine große Zahl von Vorurteilen. Diese werden sehr oft durch Wunschdenken gespeist.

Viele Gefühle rühren aber auch, sozusagen instinktiv verankert, aus Zeiten, in denen der Homo sapiens im Sinne von Charles Darwin entstand. Damals waren diese Gefühle lebensnotwendig und lebenserhaltend und brachten dem Träger enorme Vorteile, so dass er sich besser vermehren konnte als andere. Das ist der Grund, warum sie sich in den menschlichen Genen wiederspiegeln und zu Instinkten wurden.

Dazu gehören unter vielen anderen Fremdenfeindlichkeit, überschießender Selbstbehauptungswille, Hass, Neid und das Verhalten von Gemeinschaften, sich – koste es was es wolle – zusammenzuschließen, wenn eine äußere Bedrohung entsteht. Solche Instinkte sind in der heutigen Zeit, wo der Verstand des Menschen immer mehr durch Bildung und Erfahrung obsiegte, kontraproduktiv. Genau diese in uns verankerten Gefühle und Instinkte nutzen Populisten als Köder, um wie der Rattenfänger von Hameln Menschen hinter sich zu scharen.

Das zweite Phänomen, das ich nennen möchte, bedroht genauso die für den Verstand notwendigen demokratischen Strukturen. Es ist der sogenannte Tunnelblick, der verhindert, dass andere für die Gesamtbeurteilung der Situation notwendige Fakten unterdrückt werden. So ist nur zu erklären, dass der Einzelne so leicht auf emotionalisierende Fake News herein fällt. Das machen sich die Extremisten, vom Faschismus bis zum Kommunismus, von aller Arten von Mafiosi bis hin zu religiösen Sektierern geschickt zunutze. Dies führt letztlich dazu, dass terroristische Selbstmorde möglich werden.

Um eine Gesellschaft zu kontrollieren reicht es übrigens aus, dass nur zwei Prozent der Bevölkerung bzw. eine extreme Minderheit, die zum Terror bereit ist, ganze politische Systeme zu unterwandern. Dem könnte nur gegengesteuert werden, wenn die Zivilcourage des einzelnen Bürgers weiter entwickelt wäre. Das ist aber nur äußerst selten verbreitet, wie die historische Erfahrung lehrt. So konnten in der Vergangenheit unter dem Motto „Bist Du nicht für mich, dann bist du gegen mich“ ganze Gesellschaften manipuliert werden. Das gilt für große ehemalige Königreiche, Fürstentümer und moderne faschistische und kommunistische Terrorregime, die nur so entstehen konnten und können.

Die Idee der Demokratie sollte dem Einhalt gebieten und hat es zumindest zeitweise erreicht, wie z. B. in der Bundesrepublik Deutschland und anderen europäischen Staaten – was zumindest meiner Generation 70 Jahre Frieden brachte. Neuerdings machen sich jedoch Autokraten wie z. B. in der Türkei Erdogan, in den USA Trump, in Brasilien Bolsonaro, auf den Philippinen Duterte, in Venezuela Maduro, in postsowjetischen Staaten und vielen anderen, unter dem Signum der angeblichen Volks-Demokratie diese Urinstinkte zunutze. Bei uns sind es die populistischen Parteien, die den Bürgern einfache Lösungen vorgaukeln, die Angst schüren und versprechen, die Sterne vom Himmel zu holen.

Dies alles sind Gründe, dass leider die Sozialen Medien der Demokratie nur bedingt Vorschub leisten. Dass unter anderem so etwas wie der Brexit entstehen konnte und ein britisches Parlament zu Statisten des Populismus degradierte oder ein Präsident Trump ohne Scham die Erkenntnisse der Wissenschaft, was die Erderwärmung anbelangt, völlig negieren konnte.

Aber Demokratie ist auf Vernunft angewiesen, die eben hoffentlich nur in Grenzen manipuliert werden kann. Sie ist auf Vernunft angewiesen im Sinne von „Vernunftbegabte aller Länder vereinigt Euch“.