Der Super-GAU hoch drei? – Kommunikations-Desaster um den Ursprung des Corona-Virus

Posted on 23. Februar 2021

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Kruder Forscher“ oder ernsthafter Mahner der Wissenschaft? Prof. Roland Wiesendanger von der Universität Hamburg.

Jeder Wissenschaftler, das ist unbenommen, kann sein persönliches Hobby haben. Und er kann es in diesem Hobby zu Spitzenleistungen bringen, selbst wenn es fernab von seinem ursprünglichen Fachgebiet liegt. Da kenne ich einen Mikromechaniker, Direktor eines Fraunhofer-Instituts, der es zur international anerkannten Kapazität in der Biologie der Schneealgen brachte, oder einen Biochemiker, sogar Nobelpreisträger, der ein Mozartjahr öffentlich mit grandiosem Geigenspiel bereicherte. Als fachfremd bezeichnete sie dabei niemand.

In diesen Tagen erregte aber ein angesehener und vielfach ausgezeichneter Nanophysiker öffentliche Wut und vernichtende Kritik, weil er sich auf ein fremdes Fachterrain begab. Schuld war ein absolutes Kommunikationsdesaster, ein Musterbeispiel, welchen Schaden man anrichten kann, wenn Wissenschaft kommuniziert wird ohne die Grundregeln der Kommunikation zu beachten. Doch von Anfang an:

Zunächst war es privates Interesse, das Prof. Roland Wiesendanger, Gründer des Interdisziplinären Nanowissenschafts-Centrum Hamburg und Arbeitsgruppenleiter am Institut für Nanostruktur- und Festkörperphysik der Universität Hamburg, dazu brachte, sich mit dem Ursprung des Corona-Virus SARS-CoV-2 zu befassen, das vor wenigen Monaten plötzlich in China aufgetaucht ist und seitdem die Welt in Geiselhaft hält. Wurde es von Fledermäusen, über einen Zwischenwirt, auf dem Huanan-Markt in Wuhan zum ersten Mal auf Menschen übertragen? Oder ist es bei Experimenten im nahegelegenen Wuhan Institute of Virology aus dem Sicherheitslabor entkommen und hat damit die weltweite Pandemie ausgelöst?

Das Wuhan Institute of Virology: Bekannt für riskante „gain-of-functipon“-Forschung.

Eine Frage, die bei der Bewältigung der aktuellen Corona-Pandemie eher nebensächlich erscheint. Doch Wiesendanger dämmerte nach ein paar Wochen die Bedeutung dieser Frage, wie er im Gespräch mit „Wissenschaft kommuniziert“ berichtete: Die natürliche Übertragung von Tier auf Mensch wäre ein unvermeidliches Naturereignis. Das Entstehen und Entkommen aus einem Sicherheitslabor aber eine Katastrophe, die grundlegende Fragen der Wissenschaft berührt, etwa ihre Verantwortung, ihre Sicherheit, ja sogar die Frage der Wissenschaftsfreiheit: zweieinhalb Millionen Tote (derzeit), unermessliches Leid und gigantischer materieller Schaden. Das wäre ein Super-GAU der Biowissenschaften gegen den die Reaktorkatastrophe von Fukushima wie eine Bagatelle erscheint.

Statt Schuldfrage: Alarmruf zur Verantwortung der Wissenschaft

Wiesendanger sammelte daraufhin ein Jahr lang alle Informationen, die er zum Ursprung des SARS-CoV-2-Virus bekommen konnte. Er verfolgte die wissenschaftliche Literatur, spannte Bekannte und Kollegen ein um sich auch chinesische Veröffentlichungen übersetzen zu lassen, nutzte persönliche Kontakte für inoffizielle Informationen, durchstöberte Presseveröffentlichungen, Youtube, Google und zahllose Websites.

Dieses Thema war jetzt sein Hobby, abseits der Nanophysik. Und es war klar, allein auf Grundlage von wissenschaftlichen Fakten ließ sich die Frage unmöglich klären, es mussten Indizien sein. Denn niemand, dem das Virus entkommen war, falls dies so war, würde dies offen zugeben. Zudem: Im Wuhan-Institut wurde, wie aus früheren Veröffentlichungen ersichtlich, „gain of function“-Forschung betrieben, die einzelne Eigenschaften von Viren verstärkt oder abschwächt (was medizinisch genutzt werden kann, aber auch militärisch). Und die Verhältnisse in China sind nicht so, als wären eindeutige Fakten zum Ursprung des Corona-Virus irgendwo im Offenen oder Verborgenen zu finden. Internationale Gremien andererseits, das zeigen viele Beispiele, stehen unter zu starkem Einfluss von mächtigen Regierungen (keineswegs nur der chinesischen) um von ihnen eine offene Aufklärung zu erwarten. Im Grunde erledigte der Nanophysiker journalistische Arbeit, nämlich langfristige, gründliche Recherche, nicht aber eine fachwissenschaftliche Untersuchung.

Exzellenzuniversität Hamburg: Kommunikations-Desater rund um ein Papier zur Ursprung des Corona-Virus.

Wiesendanger sah jedoch, wie wichtig es war, den Ursprung des Virus zu klären und verbohrte sich. Das ist bei Wissenschaftlern nicht selten, anders würden viele herausragende Ergebnisse gar nicht zustande kommen, wenn sich Forscher nicht in eine offene Frage festbeißen könnten. Dabei aber passierten Wiesendanger die ersten Fehler: Er verfasste ein „Studie“, die in der Sprache der Wissenschaft eben eine wissenschaftliche Untersuchung ist, anstatt ein „Diskussionspapier“ oder ein „Dossier“; er belegte alle seine Funde mit Quellenangaben, ohne aber seine unterschiedlich zuverlässigen Quellen zu werten; er stützte seine Schlussfolgerung („99,9 Prozent sicher aus dem Labor“) auf gesammelte Indizien, wo doch jeder Jurist weiß, wie wackelig Urteile in Indizienprozessen sind. Und dann fasste er sein Papier wie ein wissenschaftliches Papier ab, ohne sein eigentliches Anliegen deutlich genug zu betonen: eine kritische Diskussion um Biosicherheit und die sogenannte „gain of function“-Forschung. Schließlich stellte er es zur Diskussion auf „Researchgate“, aber ohne großes Echo – vor der Veröffentlichung durch die Pressestelle.

„Welchen Sinn macht Hochrisikoforschung?“

„Es sollte ein Alarmruf sein“, meinte Wiesendanger im Gespräch mit „Wissenschaft kommuniziert“. Doch erst auf Seite 51 seiner 90 Seiten (plus Anhang) umfassenden „Studie“ kommt er ausführlicher auf die „gain-of-function“-Forschung zu sprechen. Und seine Schlußfolgerungen gehen für einen Leser in einem Gewirr von in Faksimile und Volltext wiedergegebenen Originalveröffentlichungen mit gelben und türkisfarbenen Hervorhebungen, mit häufigem Wechsel von Fett- und Normalschrift fast verloren: „Festzuhalten bleibt – unabhängig vom jeweiligen Standpunkt – dass das Coronavirus-Forschungsprogramm (seit dem ersten SARS-Ausbruch 2002 – die Red.) die gegenwärtige Pandemie NICHT verhindert hat. Man muss sich also berechtigterweise fragen, welchen Sinn diese Hochrisikoforschung (um „gain-of-function“, die Red.) tatsächlich hat neben der Tatsache, dass diese Forschung selbst ein sehr großes Gefahrenpotential für die Weltbevölkerung darstellt.“

Naturereignis oder Laborunfall: Für die Boulevard-Medien gibt es nur eindeutige Schlussfolgerungen.

Und fährt fort: „So verheerend die Auswirkungen von Atombombenabwürfen, von Atomreaktorunfällen oder von Einsätzen chemischer Kampfstoffe in der Vergangenheit waren, so sind die Auswirkungen davon letztlich regional eingegrenzt gewesen. Die gegenwärtige Coronavirus-Pandemie zeigt uns jedoch, welche Gefahren durch freigesetzte gefährliche Krankheitserreger global für die gesamte Weltbevölkerung tatsächlich existieren.“

Und er baut auch gleich gegen die von Biowissenschaftlern am häufigsten erhobene Kritik an seiner Arbeit vor, dass er als Nanophysiker sich nicht zur Virologie äußern sollte: „Soll Wissenschaft nur noch als Gesamtheit der spezifischen Fachwissenschaften begriffen werden mit klaren Abgrenzungen der „Zuständigkeiten“ einzelner wissenschaftlicher Disziplinen oder gibt es nicht auch übergeordnete Fragen der Wissenschaft, zu denen man nicht zuletzt die kritische, selbstreflektierende Betrachtung von Vorgängen in der Wissenschaft, aber auch Fragen nach der Verantwortung der Wissenschaft für das Wohlergehen der Menschheit zählen müsste?“

Super-GAU Nummer eins: Die Kommunikation der Universität

Bedenkenswerte Sätze, die sicher nicht von einem verschrobenen Wissenschaftler stammen, der auch einmal etwas zum Überthema Corona veröffentlichen will. Der aber in seiner Unerfahrenheit in Bezug auf Kommunikation mit der Gesellschaft manches falsch angefangen hat. Doch dann machte Wiesendanger etwas absolut richtig: Er wollte eine gesellschaftliche Diskussion in Gang setzen, also wandte er sich an die Pressestelle seiner Universität. Was danach geschieht bleibt jedoch unklar, selbst im persönlichen Kontakt mit den Beteiligten.

„Wir üben keine Zensur von Wissenschaftlern aus.“

Kommentar der Universität Hamburg zum
Kommunikations-Desaster

Die Pressestelle der Universität mauert, teilt trotz mehrfacher Anfrage lediglich per Mail mit: „Als öffentliche Einrichtung ist die Universität Hamburg dazu verpflichtet, Studien ihrer Wissenschaftler/innen nicht inhaltlich zu bewerten, sondern diese für den Austausch und die Diskussion in der Fachcommunity oder Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, was sie mit dem Versand von Pressemitteilungen tut. Wissenschaftliche Pressemitteilungen müssen daran gemessen werden, ob ihr Inhalt von öffentlichem Interesse ist. Die Hochschulleitung und die Pressestelle der Universität Hamburg üben keine Zensur zu Forschungsgegenständen und -ergebnissen ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus. Diese sind vielmehr zur Publikation ihrer wissenschaftlichen Ergebnisse verpflichtet. Die Forschungsfreiheit zählt im Zusammenhang mit der Wissenschaftsfreiheit und der Freiheit der Lehre gemäß Artikel 5 des Grundgesetzes zu den Grundrechten. Jede/r Wissenschaftler/in hat demnach das Recht, unabhängig von ihrer/seinem Fachgebiet Forschung zu betreiben und die gewonnenen Erkenntnisse zu veröffentlichen.“

Der Verweis auf Zensur und Grundgesetz sprechen nicht gerade für eine einvernehmliche Entscheidung auf Augenhöhe von Wissenschaftler, Universität und Kommunikator. Unklar bleibt, ob sich Wiesendanger als beratungsresitent zeigte, welche Rolle der streitbare Präsident der Exzellenzuniversität spielte, Dr. Dieter Lenzen. Wiesendanger dementiert lediglich, dass er mit Lenzen im Zusammenhang mit seiner „Studie“ über Verschwörungstheoretiker gesprochen habe, wie es ZDF-online berichtete. Unklar bleibt auch, ob die Pressestelle der Universität hier von Wissenschaftler und/oder Präsident lediglich als Erfüllungsgehilfe genutzt wurde oder ob sie ihre Kommunikationskompetenz entscheidend mit einbringen konnte.

Auch seriöse Journalisten bleiben an der Oberfläche: Eigenrecherche Fehlanzeige. Ausschnitt von Spiegel-online zur Wiesendanger-Studie.

Das Ergebnis war auf jeden Fall ein vermeidbarer Kommunikations-Super-GAU. Nummer eins: Natürlich hätte man das falsche Framing der „Studie“ erkennen können, eben kein wissenschaftliches Ergebnis, sondern Aufruf zur Diskussion. Die Kommunikatoren hätten die Brisanz der Schlussfolgerungen voraussehen können und die mangelnde Beweiskraft von „Indizien“. Man hätte verhindern müssen, dass alles genau so, wie es sich der Wissenschaftler gedacht hatte, als „Studie“ unter dem Briefkopf der Universität veröffentlicht wurde. Dazu wurde eine Pressemitteilung verfasst, in der – als handle es sich um die Entdeckung wichtiger Fakten – die Indizien im Mittelpunkt standen, nicht der Anstoß zur Diskussion. Daran ändert auch nichts die kleine Dachzeile zur Überschrift, die den Wunsch nach breiter Diskussion ausdrückt, und auch nichts der letzte Absatz auf Seite drei der Pressemitteilung, wo schließlich auch die „gain-of-function“-Forschung genannt wird. Stattdessen macht die Mitteilung ganz vorn einen halben Rückzieher, indem man formuliert, die Studie liefere „keine hochwissenschaftlichen Beweise“ – was ist der Unterschied von „wissenschaftlich“ und „hochwissenschaftlich“.

Super-GAU Nummer zwei: Die Arbeit der Journalisten

Das Echo in den Medien war vorhersehbar: Die einen aus dem Boulevard jubelten die Schlußfolgerung von Wiesendanger hoch: Pandemie-Virus aus dem Labor. Die anderen mokierten sich über den Professor und seine Universität, offensichtlich ohne das Dossier überhaupt gelesen zu haben. Volker Stollorz, Leiter des Science Media Centers, wischte das Papier mit der Bemerkung „alles bekannt“ vom Tisch. Spiegel-online titelte „Universität Hamburg adelt krude Corona-Studie“ und moniert „ein buntes Sammelsurium seriöser und unseriöser Quellen“ und zitiert Wiesendanger mit dem Satz „Im Prinzip hätte das jeder Journalist so herausfinden können.“ Kein Wort zur“gain-of-function“-Forschung – soweit hat man offensichtlich das Dossier Wiesendangers oder die Pressemitteilung nicht gelesen. Auch die anderen Medien, wo das Thema vornehmlich im Wissenschaftsressort gelandet ist, gehen kaum darauf ein. Stattdessen wiederholen fast alle die These, das SARS-CoV-2-Virus sei sehr wahrscheinlich tierischen Ursprungs, es fehle lediglich noch die Entdeckung des Zwischenwirts.

Dabei sind auch die WHO-Experten nach ihrem Besuch in Wuhan (nachdem sie zunächst das Labor-Virus für extrem unwahrscheinlich klassifiziert hatten) wieder zurückgerudert: Die WHO untersucht jetzt diese Möglichkeit genauso wie alle anderen auch. Eine jüngste Studie französischer Forscher – auf die in der Diskussion zu Wiesendangers Research-Gate-Papier verlinkt wird – kommt nach tiefgehender Analyse des Virusgenoms zu dem Schluss, dass der Urspung des Virus nach wie vor ungeklärt sei. Doch so weit haben die Wissenschaftsjournalisten offensichtlich nicht recherchiert.

Was die Kollegen aus den Redaktionen hier abgeliefert haben, weckt Zweifel am Niveau des Wissenschaftsjournalismus in Deutschland. Pauschale Kritik und Häme für den wissenschaftlichen Mahner, Eigenrecherche Fehlanzeige, stattdessen Festhalten am einmal Gelernten, Verharren im Disziplinendenken (keiner verpasst den Hinweis, dass Wiesendanger ja eigentlich als Physiker von Viren keine Ahnung habe) und fehlende Auseinandersetzung mit dem gesellschaftspolitisch wichtigen Aspekt des Diskussionspapiers, den Risiken der „gain-of-function“-Forschung in den Biowissenschaften – kurz: Super-GAU Nummer zwei. Freilich – das muss man den Kollegen zugute halten –die Pressemitteilung der Universität hat ihnen dafür eine Steilvorlage geliefert.

Super-GAU Nummer drei: Erleben wir den gerade?

Und Super-GAU Nummer drei? Mit dem müssen wir entweder gerade fertig werden oder etwas Ähnliches steht uns noch bevor. Denn auch wenn Wiesendanger mit seiner 99,9-Prozent-Aussage nicht recht hat (wovon ich bislang ausgehe), wer garantiert uns dann, dass nicht die nächste tödliche Pandemie irgendwann durch die Welt zieht, vielleicht mit noch schlimmeren Folgen als Corona, ausgelöst durch einen Unfall in einem „gain-of-function“-Labor? Wer sichert uns ab, dass nicht ein Land auf die Idee kommt, ohne Rücksicht auf Menschenrechte und andere ziviliserten Werte, ein Pandemie-Virus absichtlich entkommen zu lassen, um es im eigenen Land schnell zu besiegen und weltweit aus der Krise der anderen zu profitieren? Ein Weltkrieg ohne einen einzigen Schuss? Niemand kann heute sagen, ob es einen Schuldigen für die Corona-Pandemie gibt. China hat aber immerhin gezeigt, wie ein Land daraus seine Vorteile ziehen kann.

Pannen in biologischen Hochsicherheitslanors sind immer wieder vorgekommen. Es genügt ein Laborunfall mit dem falschen Virus. Was Not tut, ist eine intensive globale Diskussion über die Verantwortung der Wissenschaft, etwa auch über „gain-of-function“-Forschung und über die Grenzen, welche Risiken Wissenschaft der Gesellschaft zumuten darf. Das reicht am Ende bis zu den Grenzen der Wissenschaftsfreiheit. Und hier ist die Wissenschaftskommunikation gefordert, wenn sie sich als Interface von Wissenschaft und Gesellschaft versteht.

Viele Wissenschaftler suchen nach dem Ursprung des SARS-CoV-2-Virus, von den Virologen in Paris bis zur Expertengruppe der WHO. Auf die gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Frage ist noch niemand so eindrücklich eingegangen. Wiesendangers Materialsammlung hätte dazu ein guter Anstoß sein können, wenn sie nicht so unglücklich kommuniziert und von den Journalisten so oberflächlich behandelt worden wäre. Man darf zwar nicht behaupten, dass uns dies näher an den Super-GAU Nummer drei führen würde, von der Katastrophe weg aber mit Sicherheit auch nicht.